Frauen und das Problem mit der Höhe / Meine (ganzheitlichen) Gedanken als Gesangslehrerin
Entweder Frauen meiden das Singen in hoher Lage, weil sie glauben, sie können nicht hoch singen oder weil sie es schrecklich finden, wie ihre Stimme in hoher Lage klingt.
Oder sie kommen ohne größere Probleme in die Höhe, aber fühlen sich dazu nur in der Lage, wenn sie mit anderen zusammen in einem Chor singen.
Ja, oder sie gehen gleich in den Alt, oder singen immer nur in der Lage, in der sie sprechen.
MEIN AHA-MOMENT, WIE HOCH SINGEN AUF DIE STIMMUNG WIRKT
Mein Duo-Partner und ich stellten für ein Konzert mit gemischtem Programm Stücke aus dem Bereich Pop, Rock, Jazz und Klassik zusammen. Zu den klassischen Stücken gehörte eine Arie aus einer Operette.
Es war eine Arie für Sopranstimme und führte in die volle, hohe Stimmlage. Ich hatte es mit meinem Pianisten zusammen geprobt und nun wollte ich mich nochmal alleine mit dem Stück beschäftigen.
STIMME, STIMMUNG, GLÜCKSGEFÜHLE
An einem meiner Übetage nahm ich mir die besonders hohen Stellen, in denen ich laut und voll in die große Höhe singe vor. Ich bemühte mich dabei um die optimale Stütze, bzw. den optimal dosierten Atemfluss und fokussierte mich mehr auf meine Körperlichkeit als auf meinen Klang. Es funktionierte so gut, dass ich es mehrmals wiederholte. Bis ich merkte, dass ich in eine absolute “Hochstimmung” kam. Ich fühlte mich voller Energie und Glücksgefühlen. Ich fühlte mich euphorisch.
Ich wollte gar nicht aufhören, diese Stellen zu singen. Es macht mir so viel Freude und es hatte diesen einzigartigen Effekt auf meine Stimmung, meine Stimme in dieser hohen Schwingung zu hören und körperlich zu erleben. Etwas, was im Alltag keinen Anlass hat und nicht geschieht.
Es war das Erleben von Raum geben, Platz einnehmen und ausfüllen da. Mein Herz öffnete sich, “meine Seele spannte ihre Flügel aus”. Es war einfach nur wundervoll.
WARUM FRAUEN EIN PROBLEM MIT DER HÖHE HABEN
Mir ist sehr bewusst, dass die wenigsten Frauen, die privat für sich oder in Chören singen, dieses Erleben mit der Höhe haben. Chorleiter:Innen wünschen sich in der Regel von den Sopranstimmen eine sichere Höhe und großes, wohlklingendes Volumen. Doch erreichen sie es entweder mit einer regelmäßigen Stimmbildung, die die wenigsten Laienchöre sich leisten können oder gönnen wollen, oder sie prokeln an der Höhe mit Kraftzuweisungen und wenig hilfreichen Sätzen, wie “ihr müsst sicherer sein”, “Höher!, Höher!”, “Gebt mehr”, “Singt lauter”.
Lauter zu singen ist dabei tatsächlich das konkreteste und hilfreichste. Denn die Höhe braucht und hat von Natur aus mehr Volumen und mehr Lautstärke. Hoch und leise zu singen ist viel schwieriger als hoch und laut. Das hat damit zu tun, dass zur Höhe die Stimmlippen in die Länge gezogen werden, was zu einem Schwingungsverhalten mit höherer Schwingungszahl pro Sekunde (Frequenz oder auch Hertz) führt. Töne, die schnell schwingen, bezeichnen wir als hohe Töne. Das Dehnen der Stimmlippen benötigt Energie und geht automatisch mit einem Anstieg der Lautstärke zusammen. Hoch und dabei gesund leise zu singen, braucht Training, bzw. eine freie, ungehinderte Stimmgebung.
Und mit “frei” meine ich eine Stimmgebung, die nicht durch Angst vor Abwertung oder Scham blockiert ist.
LEISE SEIN WIRD (ZU) HOCH GESCHÄTZT
Jetzt haben aber die meisten Menschen davor Angst, laut zu singen. Warum ist das so? Weil das Leise-sein in unserer Kultur hoch geschätzt wird. Als Kind wird uns schon eingetrichtert, dass wir leise sein sollen. Und wenn dann noch das Singen eines Kindes oder Jugendlichen negativ kommentiert wird, ist es aus mit dem einfach so nach Herzenslust singen.
Wir beginnen, unsere Stimme zurückzuhalten, aus Angst vor weiteren negativen Wertungen. Das führt dazu, dass wir den freien Zugang zur eigentlich möglichen Höhe, wie überhaupt den freien, ungehinderten, stimmlichen Selbstausdruck verlieren. In allen Laienchören treffen nun diese “verhinderten” Sänger und Sängerinnen auf Lieder und Arrangements, die Chorgemäß in die hohe Lage reichen.
Singen ist halt nicht Sprechen. Im Singen nutzen wir einen sehr viel größeren Tonumfang, als im Sprechen. Entweder gehen Chorsängerinnen gleich in den Alt, wo sie der Situation mit der hohen Lage in der Regel ausweichen können oder sie suchen Schutz und Halt bei den anderen Sopransängerinnen. In der Masse hat man weniger Angst, gehört und bewertet zu werden. Es bleibt aber die geistige Einstellung und das daraus resultierende Verhalten: Angst vor der Höhe, “Bloss nicht gehört werden” führt dazu, alle eigentlich notwendige Energie dem Körper zu entziehen, um bloß nicht laut in der Höhe zu sein.
Der natürliche Stimmgebungsprozess wird blockiert und dass führt dazu, dass der Hals eng wird (Angst) und das Singen in der hohen Lage als unangenehm empfunden wird. Erwachsene, lebenserfahrene Frauen klingen dann wie kleine Mädchen. Und das, was zu großer Lust und Freude reichen könnte, bringt nur Frust und die Bestätigung “Ich kann nicht hoch singen”.
DIE BEFREIUNG DER HÖHE
Was braucht es, um hoch singen zu können, ohne die Angst davor schief oder schrecklich zu klingen?
Es braucht zunächst einmal den Wunsch, es zu ändern und sich Klarheit darüber zu verschaffen, was möglich ist.
Aus meiner langen Erfahrung mit unzähligen Freizeit- und Chorsängerinnen kann ich sagen, es sind fast ausschließlich immer die gleichen Punkte.
DAS WAS DIE MEISTEN FRAUEN DARAN HINDERT, HOCH ZU SINGEN, SIND
die Scham, falsch zu singen
die Angst, schrecklich zu klingen
negative Kommentare von anderen
die wiederholte Erfahrung, daß hoch zu singen körperlich als unangenehm empfunden wird
falsche Vorstellungen davon, zu was ihre eigene Stimme in der Lage ist
unzulängliche Kenntnis, wie eine gesunde Gesangstechnik aussieht
unzulängliche Anleitung seitens der Chorleitung
WAS ES BRAUCHT, UM HOCH SINGEN ZU KÖNNEN*:
*ES SELBER DABEI SCHÖN ZU FINDEN UND GENIEßEN ZU KÖNNEN
Selbstakzeptanz und Selbstliebe
Keine Angst vor Fehlern
Neugier und Unvoreingenommenheit
Offen sein für überraschende Erkenntnisse, was die eigene Stimme kann
Den Wunsch, neues über seinen Körper und seine Stimme lernen zu wollen
Einen guten Kontakt zum Boden oder auch einfach Erdung
DIE BEFREIUNG DURCH HÖHE
Wenn Frauen beginnen, Ihren Körper wahrzunehmen und seine Möglichkeiten zu nutzen, haben sie automatisch einen Zugang zur Befreiung ihres ursprünglichen Stimmvermögens.
Das weit verbreitete “Sich-zurückhalten” bedeutet, dass man sich körperlich zurückhält. Die Atmung wird flacher, die Energie niedriger, der Kontakt zum Körper verliert sich. Wir werden zu sogenannten “Kopfmenschen”.
Frei zu atmen, seine Energien frei durch den Körper fließen zu lassen; einen guten Kontakt zum Körper und zum Boden zu haben; das alles geht immer einher mit einem Zuwachs an Energie und einem größeren Gewahrsein, wer wir sind, was wir brauchen und was wir fühlen.
Hole ich mir die Fähigkeit zurück, meine Stimme in hoher Lage - wie in ALLEN Lagen - frei erklingen zu lassen, öffnen sich Quellen der tiefsten Lebensfreude und Lebendigkeit. Euphorie erfüllt uns, wenn wir alle unsere Klangräume öffnen und sie mit unserem Stimmklang erfüllen.